Selbstbewusstsein

Ich hatte neulich einen Klassenabend, das bedeutet, alle Schüler meines Gesangslehrers kommen zusammen und tragen dir Stücke vor, die sie in dem letzten Monaten erarbeitet haben. Ganz klein und familiär. Das mache ich seit 4 Jahren und es ist jedesmal ein Desaster 🙁 . Ich kann meine Stücke, ich weiß, wie man singt, ich habe eine schöne Stimme, aber wenn ich den Mund aufmache, kommt da eine Mischung aus Frosch und Seehund raus. Meine Nerven flattern und ich kann nichts machen, als weiter zu singen, bis sich nach einer Seite alles beruhigt hat und endlich so klingt, wie es sollte/könnte.
Das macht mich absolut rasend, denn ich weiß, dass mir niemand dieser Menschen etwas tut, niemand lachen wird und alle gut verstehen, wie ich mich fühle und mir hinterher trotzdem aufrichtig gratulieren zu dem Fortschritt, den ich seit dem letzten Mal gemacht habe. Es gibt einfach keinen Grund, in diesem speziellen Rahmen dermaßen nervös zu sein.
Im Chor ist das was anderes. Da sitzen genug Frauen, die einen beneiden und lästern und darauf warten, dass ich einen Fehler mache. Deswegen verstehe ich, dass ich in diesem Rahmen unendlich nervös bin. Wohingegen ein “echtes” Publikum, also mehrere hundert Zuhörer, mich kalt lassen – die können mir nichts.

Jedenfalls kam von allen Seiten der Kommentar: Du kannst das doch, trau dir mehr zu, sei selbstbewusst!

Das hat mich ein bisschen zum Nachdenken gebracht. Denn ich selbst hätte das nicht mit fehlendem Selbstbewusstsein erklärt. Ja, ich bin schüchtern, aber ich weiß, was ich kann und dass ich gut vorbereitet bin und nicht die schlechteste Sängerin in der Gruppe. Ist das also wirklich mein Selbstbewusstsein, oder doch nur meine Schüchternheit? Und wie eng hängen Schüchternheit und Selbstbewusstsein zusammen?

Grundlegend habe ich ein gutes Bild von mir und denke, dass ich als Mensch vieles richtig mache und ziemlich in Ordnung bin. Ich habe durchaus Selbstzweifel in einigen Bereichen, bzw. weiß, dass ich mehr leisten könnte, wenn ich mich mehr anstrengen würde. Ich nehme mich nicht zu ernst und selbst wenn etwas schief geht (Stichwort: Frosch) kann ich gut damit umgehen und es endet nicht damit, dass ich heulend den Raum verlasse, sondern ich habe die Souveränität, zu sagen “ok, das war scheiße, jetzt machen wir das noch mal richtig!”

Ein alternatives Beispiel über flatternde Nerven war neulich im Büro, als ich einer ziemlich großen Truppe ein paar neue Features vorstellen sollte. Dafür saß ich alleine in meinem Büro und habe online die Funktionen gezeigt. Bis es anfing, war ich total entspannt, aber dann war ich wieder total nervös. Eigentlich sollte man meinen, dass ein Publikum, von dem man nichts sieht und hört, das beste Publikum überhaupt ist, aber so ohne jegliches Feedback kann man sich auch an nichts festhalten und sich nicht beruhigen, weil man sieht, dass die Leute verstehen, was man sagt oder nett nicken oder so. Das war strange. Naja, das werde ich in Zukunft jedenfalls häufiger machen, das wird also geübt.

Meine größte Unsicherheit liegt im zwischenmenschlichen Bereich. Als extrem introvertierter Mensch, bin ich zwar sehr, sehr zurückhaltend, aber trage mein Herz auf der Zunge und bin auch sehr ehrlich. Und wenn jemand etwas in mir anspricht, reagiere ich sehr schnell darauf und möchte diesen Menschen festhalten, denn das passiert sehr, sehr selten. (alle paar Jahre mal) Damit verunsichere ich andere sehr schnell, die wahrscheinlich schon ein Bild der overly attached girlfriend* vor Augen haben, obwohl ich eigentlich nur nett sein möchte 😉 Da bleibt dann nur Geduld und Ruhe, um sich kennen zu lernen und zu verstehen, was da, außer einem großen Haufen Chemie, wirklich ist.

Und warum ist es so ungewöhnlich, sich Dinge zu merken, die einem jemand erzählt hat? Immer wieder gerate ich entweder in die Situation, dass jemand völlig vergessen hat, dass wir ein Thema schon mal besprochen haben und grundlegende Dinge nochmal nachfragt, oder dass sie total verwundert sind, dass ich mir eben Sachen gemerkt habe, die sie mir irgendwann mal erzählt haben. Entweder interessiert es sie offenbar also nicht, was ich erzähle, bzw. ich bin nicht relevant genug, als dass man sie sich merken müsste, oder sie reden mit so vielen Menschen, dass sie es nicht schaffen, sich Informationen zu merken… Wie auch immer, jedenfalls steh ich dann am Ende als halber Stalker da, weil ich zuhöre und mir die Sachen merke, die mir erzählt werden.

Ich stehe oft vor dem Dilemma, ob ich mich bei jemandem melde, oder jemanden anspreche, oder jemanden auch nur bei Facebook/Twitter/Spotify/Instagram adde (was für Frauen übrigens genauso gilt, nicht nur für Männer), weil ich befürchte, zu aufdringlich zu sein. Das ist wieder eine Frage der Schüchternheit und irgendwie bestimmt auch des Selbstbewusstseins. Ich habe seit Monaten eine Mail in den Entwürfen, in der ich jemanden gerne auf einen Kaffee treffen würde, um ihn näher kennen zu lernen. Ich krame sie immer wieder raus, aber schicke sie nie ab. Ich wurde von einer meiner besten Freundin vor ein paar Jahren mal genau so “angesprochen” und alles lief super, aber irgendwas hält mich davon ab. Wahrscheinlich würde es positiv verlaufen und selbst wenn nicht, dann wird mich das auch keine schlaflosen Nächte kosten, also sollte mir das echt egal sein. Aber nein, da bin ich total gehemmt.

Aber besser schüchtern, als zynisch und sarkastisch oder totale Resignation. Aber so hat jeder seine [Abwehr-]Mechanismen und es kommt in Endeffekt nur darauf an, dass irgendwer sich die Mühe macht und sich die Zeit nimmt, um einen kennen zu lernen und zu beweisen, dass nicht alle Menschen da draußen Arschlöcher sind, sondern es auch ehrliche Menschen gibt, die sich wirklich für einen interessieren und einen gerne haben. Denn irgendwie gibt es davon viel zu wenige.

Und wie immer ein Mix aus losen Gedanken, die alle ineinander führen, aber gar nicht zwingend mit dem Thema zu tun haben. Aber so ist das eben. Fängt man erstmal an mit Schreiben, kommt da immer mehr zusammen.


Overly Attached Girlfriend

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